Bis vor einigen Jahren hatte ich die schöne Vorstellung, dass ich im Alter (so ab 70 vielleicht…) echt weiß wie’s geht: Also, das Leben im allgemeinen, aber vor allem auch wie ich so „ticke“. Schließlich bin ich dann mit 70 ja auch echt schon eine ganze Weile mit mir unterwegs… Dazu gibt-gab es auch ein wirklich aussagekräftiges Bild in meiner Vorstellung: Alt-Katlll sitzt (trotz ihres Alters noch recht ansehnlich) auf der Gartenbank unter dem Wildschen Apfelbaum – mit Kaffee! Ja, die Kaffee-Liebe ist im Alter geblieben und vielleicht hat Alt-Katlll auch ein Buch zur Hand (evtl. braucht sie inzwischen eine Lesebrille, aber da steht sie drüber…). Nun gut… Das wirklich tolle aber ist, dass die 70jährige Katlll innerlich mega aufgeräumt und geordnet ist. Die ist sowas von mit sich im Reinen! Alle Zweifel, Unsicherheiten, persönliche Baustellen und Katlll-Lebensthemen sind komplett reflektiert, bearbeitet und archiviert. Ha, das ist toll! Die Alt-Katlll hat die Ruhe weg. Sie weiß was sie fühlt, alles in ihr ist super stimmig, sie lebt in innerer Balance und kann echt gut für sich sorgen! Krass, I love die 70jährige, die ich werde… So weit die Wildsche Theorie. Inzwischen beschleicht mich jedoch regelmäßig die Ahnung, dass es nicht ganz so kommen wird wie in der Wildschen Vorstellung (außer vielleicht der Kaffee- und Brillenteil…). Hierfür gibt es eindeutige und (fast) nicht zu ignorierende Hinweise:

Irgendwie scheinen die Gewissheiten und Eindeutigkeiten eher weniger, statt (wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre) mehr zu werden. Noch vor wenigen Jahrzehnten war ich eine begeisterte Anhängerin der Eindeutigkeit: „Entweder oder“, „schwarz oder weiß“, aber auf jeden Fall klar und aufgeräumt musste es in mir sein – unbedingt und um jeden Preis. Fast muss ich ein wenig schmunzeln über die Jung-Katlll von damals, aber nur ein wenig, weiß ich doch um ihr damaliges Bedürfnis nach Halt und Sicherheit. Heute ist der innere „entweder oder“-Anspruch einer Haltung des „und“ gewichen. Die mittelalte- Katlll verspürt nicht mehr das Bedürfnis sich selbst, die Menschen und die Welt in „schwarz oder weiß“ einzuordnen. Es ist okay, dass es in mir und um mich herum jede Menge Uneindeutiges und Unklares gibt. Ich und die Menschen sind vielfältig und unfertig – im Innen und im Außen. „Und“ zu sein und zu fühlen stellt mich nicht (mehr) in Frage, auf die Probe oder verlangt eine zeitnahe Klärung. Das „und“ hat mich Vorsicht und Respekt vor Schnell-Rückschlüssen und gesellschaftlich-moralischen Urteilen gelehrt und ist nichts für Menschen, die es einfach und bequem mögen. Deshalb mag ich das „und“ inzwischen sehr!

Und wann soll das bitte mit dem archivieren der Lebensthemen los gehen? Sollte da mit 50 nicht schon das ein oder andere (ungeliebte) Lebensthema abgeschafft sein? (Yeah, chakka!) Stattdessen tun sie dass was ihr Name verspricht: Sie leben mit mir! In jungen Jahren habe ich mich eifrig und intensiv meinen Lebensthemen gewidmet – immer mit dem Ziel sie los zu werden und zu verabschieden. Ha, aber Lebensthemen heißen ja nicht umsonst „LEBENS-Themen“ und pochen deshalb auf ihr erworbenes Recht, Teil von uns zu bleiben. Erst sehr viel später habe ich verstanden, dass unsere Lebensthemen stille, anerkennende Begleiter unserer (Lebens-)Geschichte sind. Sie verlassen uns nicht einfach auf halber Strecke, stattdessen sind sie Anpassungskünstler. Im Laufe unseres Lebens passen sie sich in Form, Ausdruck, Größe und Bedeutsamkeit unserer inneren Entwicklung an. Und wenn es gut läuft, dann verändert sich unser Umgang mit ihnen. Ich kenne meine (Lebens-)Themen: Ich kann spüren wann und wie sie sich in mir regen und was sie von mir brauchen. Im Alter bin ich quasi erfahrener Katlll-Lebensthemen-Profi! Vielleicht haben wir uns sogar ein wenig aneinander gewöhnt und aufeinander eingespielt. Wir kennen uns gut, haben miteinander und vielleicht auch (manchmal) gegeneinander gekämpft und sind heute so etwas wie (Lebens-)Partner.

Gerade überlege ich, ob das Bild von der 70jährigen Katlll unterm Apfelbaum (mit Kaffee, Buch und Brille)nicht erst „ganz“ ist, wenn ich da alt und schrumpelig (trotzdem noch ansehnlich!) zusammen mit meinem „und“ und meinen Lebensthemen sitze. Warum sollte all das mit 70 nicht mehr in mir sein dürfen, wenn es doch Teil von mir ist und mich bunt, echt und lebendig macht? Vielleicht ist es viel herrlicher auch im Alter noch zu „struggeln“, un-allwissend zu sein und seine vertrauten Lebensthemen mit einem „Ah, das seid ihr ja wieder“ zu begrüßen? Ich finde diese Alt-Katlll-Apfelbaum-Version 2.0 irgendwie sehr sympathisch und erstrebenswert. Also: I will see me under the apple tree in 2044! 🙂

© Katjenka Wild

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